Grußwort von Wolfgang Tiefensee anlässlich der feierlichen Entlassung des Abiturjahrgangs 2016

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten des Lilienthal-Gymnasiums,
ich grüße Sie alle ganz herzlich anlässlich der feierlichen Entlassung des Abiturjahrgangs 2016 am Gymnasium Lilienthal. Sicherlich wird Ihnen dieser Tag als eine Zäsur, vielleicht sogar als eine „Lebenswende“ in Erinnerung bleiben, an die Sie gern zurückdenken.

In gewisser Weise schließt sich heute der Kreis: Am 2. Oktober 2014 sprach ich im Rahmen einer Veranstaltung dieses Gymnasiums mit dem Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.“, dessen Vorsitz ich damals innehatte, zu Ihnen über die Bedeutung der Friedlichen Revolution für unsere heutige Zeit. Mit Freude habe ich inzwischen erfahren, dass diese Veranstaltung im Nachhinein zu einer weiteren Belebung des außerunterrichtlichen politischen Engagements geführt hat, in dessen Zuge auch die Kooperation mit dem Verein „Gegen Vergessen – für Demokratie“ weiter ausgebaut wurde. Umso mehr freue ich mich, dass ich heute – an diesem für Sie so bedeutsamen Tag – erneut die Gelegenheit erhalte, mich auf diesem Wege nochmals an die Schülerinnen und Schüler von damals zu wenden.

Nennen Sie es Zufall, dass der heutige Tag ihrer Abiturfeier – der 17. Juni – auch ein Tag von enormer historischer Bedeutung für Deutschland ist. Am 17. Juni 1953 entwickelte sich aus einem Arbeiterkonflikt in der DDR innerhalb weniger Stunden ein politischer Aufstand – ein Aufstand für Einheit, Demokratie und Freiheit, der dann von sowjetischen Panzern niedergeschlagen wurde. 55 Demonstranten sowie mehrere SED-Funktionäre und Sicherheitskräfte starben. Mehrere Hundert von ihnen wurden zu Freiheitsstrafen von bis zu 25 Jahren in Gefängnissen, Zwangsarbeitslagern und im sibirischen Gulag verurteilt. Sowjetische Standgerichte verhängten mindestens 18 Todesurteile.

Trotzdem oder gerade deswegen: Die Tatsache, dass der Aufstand gescheitert ist, nimmt ihm nichts von seinem historischen Stellenwert. Festzuhalten bleibt, dass die ostdeutschen Demonstranten vom Juni 1953 die ersten waren, die sich in Osteuropa gegen das kommunistische System erhoben. Es sollte noch mehr als 30 Jahre dauern, bis der Ruf nach Freiheit und politischer Veränderung in der DDR erneut laut wurde und am 9. November 1989 mit der "Friedlichen Revolution" schließlich zum Fall der Berliner Mauer führte. Die Demonstranten von 1989 standen dabei nicht nur in der Tradition der Frauen und Männer des 17. Juni, sie handelten auch in der Tradition der Aufstände von 1953 und 1956 in Ungarn, von 1968 in der Tschechoslowakei und von 1980/81 in Polen. Nur wer sich den Ausgang dieser Ereignisse vor Augen hält, kann den Mut der Menschen ermessen, die 1989 in Leipzig auf die Straße gingen, um dort für Demokratie und Freiheit einzutreten. In jenen Oktobertagen wurde vollendet, was am 17. Juni noch blutig niedergeschlagen worden war.

Was ist also das Vermächtnis des 17. Juni für uns – vor allem für Sie, die Sie doch viel später und weit weg von jenen Geschehnissen aufgewachsen sind?

Vor allem ist es wohl die Erkenntnis, dass Demokratie, Frieden und Freiheit wichtige Errungenschaften sind, die KEINESWEGS als selbstverständlich anzusehen sind, sondern jeden Tag aufs Neue verteidigt und gelebt werden müssen.

Der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace fragte einst in einer Rede an Collegeabsolventen: „Was ist Wasser?“ Er bat sein Publikum dann, die Perspektive eines Fisches einzunehmen. „Wasser“, so Wallace, sei für den Fisch, was ihn so selbstverständlich umgibt, dass er es nicht mehr wahrnimmt. Dennoch ermöglicht das Wasser ihm alles, was er tut. Für Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, ist das „Wasser“ die Freiheit, der Frieden und die Demokratie, in der Sie leben, die Abwesenheit von staatlicher Willkür, die Abwesenheit von Krieg und Entwürdigung. In diesem „Medium“ konnten Sie zu jenen Menschen heranwachsen, die Sie heute sind. Dieses „Wasser“ ermöglicht es Ihnen, Ihr Leben so zu führen, wie Sie es tun.

Freiheit und Demokratie bilden das Fundament unserer Gesellschaft. Hierzu gehört auch der Gedanke, in jedem Einzelnen den Menschen zu sehen, die Unterschiede zwischen uns anzuerkennen und wertzuschätzen, anderen Menschen mit Respekt zu begegnen und diesen wiederum von anderen einzufordern.

Mein Eindruck ist: Nie waren diese Werte während der letzten Jahrzehnte so bedroht wie heute.

Es gibt derzeit eine weltweites „Roll back“, eine Bewegung, die mittlerweile den gesamten europäischen Kontinent erfasst zu haben scheint. Getragen wird sie von rechtspopulistischen Parteien, die in Europa immer mehr an Einfluss gewinnen. Aggressiv gestimmt gegen Muslime, gegen Homosexuelle, gegen Feminismus, gegen die ganze liberale Demokratie mit ihren bisweilen schwerfälligen Institutionen und mühsamen Kompromissen sind rechte Parteien dazu entschlossen, unsere demokratischen Gesellschaftssysteme umzumodeln oder gar umzustürzen. Sie sind in der Offensive – und die Gegenwehr fällt erstaunlich schwach aus.

Rückenwind erhält diese Bewegung von der wachsenden Unsicherheit, die wir derzeit erleben. Da ist zum einen die von Krisen und Kriegen geprägte internationale Lage, die vielen Menschen Angst macht. Da sind zum anderen die wirtschaftlichen Unsicherheiten, die Eurokrise, die nach wie vor noch nicht überwunden ist. Da ist die zunehmende Angst vor Kriminalität und Terroranschlägen. Und da ist nicht zuletzt die Unsicherheit darüber, wie wir mit den über eine Million Menschen, die im vergangenen Jahr in unserem Land Schutz gesucht haben, zukünftig zusammenleben werden.

Die freiheitliche, demokratische Welt hat noch nicht verstanden, dass hier die größte Herausforderung der Gegenwart liegt: Wir dürfen bei dieser Entwicklung nicht nur besorgt zuschauen. Da dieser Trend das Fundament unserer Gesellschaft gefährdet, haben wir alle die Pflicht, dieser Bewegung hin zum Hass, zur Ausgrenzung und Intoleranz entgegenzutreten und für unsere Werte – die Werte des 17. Juni 1953 und des 9. November 1989 – einzutreten.

Wie verschaffen wir uns Gehör? Tun wir das Nächstliegende. Fangen wir damit an, dass wir darauf achten, wie wir uns selbst verhalten. Behandeln wir andere, wie wir selbst behandelt werden möchten. Seien wir ein Vorbild, dem andere nacheifern. Positive Beispiele können eine ansteckende Wirkung haben, sie können um sich greifen.

Lassen Sie uns auch regelmäßig im Gespräch bleiben – mit unseren Freunden und Familien genauso wie in Vereinen und Gemeinschaften. Je mehr diskutiert wird, desto besser. Populisten „verkaufen“ sich gern als authentische Stimme des Volkes, die nationale Werte gegen fremden Einfluss verteidigt. Es ist wichtig, dass auch andere Stimmen in diesem Chor hörbar bleiben.

Wenn wir wollen, dass Demokratie und Freiheit das Fundament unserer Welt bleiben, dann dürfen wir sie gerade NICHT für selbstverständlich halten. Wir alle sind dringend dazu aufgerufen, diese Werte zu verteidigen. Hier ist jeder Einzelne von uns gefragt. Das ist das Vermächtnis des 17. Juni 1953, das ich Ihnen – den künftigen Gestaltern dieses Landes – mit auf den Weg geben möchte.

Der 17. Juni ist ein stolzer, ein bedeutsamer Tag für uns und unser Land. Wir tun gut daran, uns dieser Tatsache zu besinnen und das Erbe des 17. Juni 1953 wach zu halten. Der mutige, der spontane und von Menschen aus allen Schichten des Volkes getragene Aufstand in der ehemaligen DDR ist eine der großen Wegmarken deutscher und europäischer Freiheitsgeschichte. Der Einsatz für Freiheit, Demokratie und Einheit sollte uns – gerade heute – ein dauerndes Vorbild sein.

Ich wünsche Ihnen alles erdenklich Gute auf Ihrem weiteren Lebensweg. Herzlichst,
Ihr
Wolfgang Tiefensee